Als die Stille ins Land kam

Eine realistisch utopische Geschichte über das plötzliche Ende von Werbung und Wahlkampf

von Bernd Lukasch

 

Jede [Reklame] fordert uns implizit dazu auf, auf diejenigen Objekte, die wir bereits besitzen, zu verzichten; sie als erledigt beiseite zu schieben, also: schonungslos zu sein. Jede Werbung ist ein Appell zur Zerstörung. [...]
Es scheint mir undenkbar, dass Verhaltensarten, die Produkten gegenüber nicht mehr als Tugenden, umgekehrt sogar als Untugenden gelten, im Verkehr der Menschen miteinander als Tugenden aufrechterhalten werden können. Die Menschheit, die die Welt als "Wegwerf-Welt" behandelt, behandelt auch sich selbst als "Wegwerf-Menschheit".
Günther Anders:
Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1986

 

Carmen saß auf der Terrasse ihrer Lieblingskneipe. Sie hatte einen anstrengenden und unerfreulichen Tag hinter sich und war auf dem Nachhauseweg kurz eingekehrt um etwas Abstand zu bekommen. Eigentlich liefen die letzten Monate recht gut. Carmen hatte Karriere gemacht. Sie war von ihrem Betrieb, der Supermarktkette „kaufcom“, in die Zentrale geholt worden, wo man ihr eine tolle Stelle in der Marketing-Abteilung anbot. Die neue Arbeit lag ihr und sie legte mit ein paar erfolgreichen Kampagnen gleich einen guten Start hin. Aber heute hatte sie ein Tief. Der Termin bei dem Werbeunternehmen, das für die „kaufcom“ arbeitet, trieb ihr immer noch den Schweiß auf die Stirn. Schon zum dritten Mal saßen sie heute zusammen, ohne dass die neue Kampagne stand. Man erwartete Carmens Strategie. Die Werbeleute machten zwar ihren Job, taten, als sprühten sie vor Ideen, aber etwas Zündendes war nicht dabei gewesen. Carmen war, als würde sie von allen Seiten fragend angeschaut und wäre fast ins Stottern gekommen, weil ihr nichts einfiel. Irgendwie schien alles schon mal da gewesen zu sein. Bis in die Dunkelheit dauerte die Sitzung, ohne dass das Gefühl aufgekommen wäre, dass man auf dem richtigen Wege sei. Jetzt wollte Carmen den Abend wenigstens noch bei einem Glas Wein oder einem Campari ausklingen lassen, bevor sie nach Hause ging, in der Hoffnung, morgen käme ihr eine rettende Idee.

Als sie gerade aufbrechen wollte, sah sie Kai auf der anderen Straßenseite. Der hatte Carmen auch schon bemerkt und winkte ihr zu. Kai war ein früherer Arbeitskollege von Carmen und sie hatten sich damals gut verstanden. Als Kai dann eine Stelle in der Parteizentrale der SPD annahm, hatte Carmen sich öfter darüber lustig gemacht und ihn vor Bekannten frotzelnd auf seinen neuen Job angesprochen. Kai reagierte dann immer etwas genervt. Es reiche nicht, für gute Politik zu sein, man müsse die gute Politik auch gut verkaufen! Das sei nicht anders als in ihrem Laden, so etwa argumentierte er dann regelmäßig einigermaßen verärgert. Inzwischen waren fast zwei Jahre vergangen, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten. Die Frage, was aus ihren Jobs geworden war, war also mehr als Höflichkeitsrhetorik und beide hielten nicht hinterm Berg, da sowohl Carmen als auch Kai stolz berufliche Erfolge vorzuweisen hatten.

Und dann kam es: Kai erzählte Carmen fast ihre eigene Geschichte. Er gehöre zum Wahlkampfteam und es beginne gerade die heiße Phase der Vorbereitung. Jetzt ginge es um Leitlinien, die Zielrichtung, die Grundaussagen und Slogans, die die Wähler ansprechen und ihre Gemütslage treffen sollten. Den ganzen Tag über hatte er beim "Strategietreffen" gesessen, aber das was vorlag, kam ihm alles andere als schlagkräftig vor. Und dann kam der Hammer: Er hatte den ganzen Tag fast Tür an Tür mit Carmen verbracht, denn die SPD arbeitete mit genau derselben Agentur zusammen, die auch für die „kaufcom“ als Generalauftragnehmer für Firmen-Identity und Werbung arbeitete. Ein paar Leute aus dem Unternehmen hatten sie sogar beide kennengelernt und von denen kam keiner bei der nun folgenden gemeinsamen Beurteilung gut weg. So war der Abend fast konspirativ, auf jeden Fall aber noch recht erfrischend verlaufen.

Es war nach Kais drittem Bier und Carmens viertem Campari, als das Gespräch das gemeinsame Thema fast erschöpfend abgehandelt hatte, und Kai im Spaß sagte: "Na dann machen wir eben eine SPD-Schnäppchenkampagne oder einen kaufcom-Wahlkampf, oder beides." Das aber war nur so in die Gesprächspause hinein gesagt und nicht weiter debattiert worden. Überhaupt waren Carmen und Kai wenig später aufgebrochen, ohne sich zu einem Wiedersehen zu verabreden. Wie es dann dazu kam, dass sich die „kaufcom“- und die SPD-plakate mehr als ähnlich sahen, die gleichen Slogans und witzige Reime benutzten, deren erste Zeile bei „kaufcom“ zu lesen war, während man die reimende Ergänzung bei der SPD lesen konnte, darüber kursieren die verschiedensten Gerüchte und Geschichten. Carmen und Kai jedenfalls bestreiten energisch die scherzhafte Bemerkung jenes Abends ernsthaft verfolgt zu haben. „Lieber fernsehgeil als radioaktiv“ hieß bei kaufcom die Werbung für die TV-Abteilung. Die SPD begleitete mit demselben Spruch ihr Atom-Ausstiegsprogramm. “Warum in die Ferne schweifen“ warb der örtliche Supermarkt. „Denn das Gute liegt so nah“ war der strahlende SPD-Spitzenkandidat an den Stadtlaternen untertitelt.

Die unwahrscheinlichste aber am häufigsten gehörte Erklärung war die von einem Alleingang des Werbebüros, der auf Grund des laufenden Wahlkampfs nicht mehr zu stoppen war. Da die gemeinsame Kampagne jedoch überaus erfolgreich war, wurden die meisten Geschichten schmunzelnd erzählt und zielten kaum darauf ab, für die Wahrheit gehalten zu werden. Erfolg sucht keine Schuldigen. Die SPD jedenfalls hatte eine ganze Ladenkette zu Wahlkampfhelfern gemacht, aber auch die „kaufcom“ profitierte in gleichem Maße von den zusätzlichen und ungewöhnlichen Werbeflächen überall im Land. Natürlich reagierte die Discounter- ebenso wie die Parteienkonkurrenz mit Entrüstung und einer Flut von Klagen bis hin zum Versuch der Anfechtung der Wahl. Allerdings wurde gleichzeitig überall im Hintergrund intensiv daran gearbeitet, die Idee gegebenenfalls zu kopieren, um im Falle einer entsprechenden juristischen Entscheidung vorbereitet zu sein und dann die erforderlichen Partner zu haben.

Zu größeren Irritationen war es übrigens auch während der Wahl gekommen. Aus verschiedenen Wahllokalen wurde berichtet, Bürger wollten die „kaufcom“ wählen, hätten diese aber auf ihrem Stimmzettel nicht vorgefunden.

Die Krise nahm an Dramatik zu, als eine andere Partei, unterstützt von einem privaten Fernsehkanal, eine Gesetzesinitiative startete, den entsprechenden Sender aus der Pflicht zur paritätischen Ausstrahlung von Wahlspots zu entlassen. Das Ziel der Partei war klar: Sie wollte den Sender als eigene Hausmacht etablieren. Als Begründung diente natürlich die kaufcom-Affäre. Die Wellen schlugen immer höher. Andere Initiativen reichten von der Etablierung einer unabhängigen Schiedskommission, die jegliche Querverbindung aus der Politik in die Wirtschaft und in die Medien unterbinden und Verstöße drastisch ahnden sollte bis hin zu einer völligen Freigabe des Wahlkampfes. Der Disput wurde immer grundsätzlicher und beschränkte sich zunehmend nicht nur auf die Öffentlichkeitsarbeit der Politik.

"Demokratie zum Schnäppchenpreis" titelte eine große Zeitung und setzte am Folgetag trotz, oder gerade wegen des Sturms öffentlicher Entrüstung noch eins drauf, indem sie das Portrait des Wahlsiegers mit dem Slogan "Gut gekauft, Bürger!" nachschob.

„Ist es zu akzeptieren, dass sich die Demokratie der Methoden des Sommerschlussverkaufs bedient?“ So oder ähnlich lauteten die Kommentarthemen politischer Magazine, die die Frage wieder und wieder behandelten. Wo liegt die Grenze zwischen dreister Demagogie und akzeptierter Werbung? In Gesprächskreisen und Leserforen wurde alle nur denkbaren Sichten und Gesichtspunkte beleuchtet. Politische Statements jener Tage kamen nicht ohne eine Positionierung zur kaufcom-Affäre aus. Selbst mit Spraydosen wurde der Disput geführt. "Lügner" stand nun nicht mehr nur auf Wahlplakaten, sondern wurde auch auf die Ankündigung zum "Supersparwochenende" des Baumarkts gesprüht. Der Disput wurde nicht nur immer heftiger, er zog auch immer weitere Kreise.

Die Angestellten eines Möbelmarktes berichteten, sie bekämen von wütenden Kunden ihre neue Hausbroschüre mit den Worten "Demagogendreck" vor die Füße geworfen, weil sie "Ja, ich will sparen" oder "Das Glück kam mit meiner neuen Küche" betitelt war. Rundfunksender fühlten sich genötigt, vor und nach Interviews zu betonen, dass das Gesagte nicht neutral formuliert sei, aber aus Gründen der Authentizität so gesendet werden solle, wofür man sich vorsorglich entschuldige.

Der Streit polarisierte zunehmend die Öffentlichkeit. Stimmen die für ein Ende der immer absurderen Debatte plädierten wurden von den extremen Positionen vereinnahmt oder pauschal der Gegenseite zugerechnet. Beispielsweise geriet ein Werbespot für Hundefutter ins Visier der Diskussion, in dem ein Haustier vor dem heimischen Fressnapf auf Herrchens unter Nennung des Firmennamens gestellte Frage: "Na, das schmeckt dir, nicht wahr!?" mit einem kurzen Beller reagierte. Kommentare sprachen vom Missbrauch der Kreatur und vom Suggestivcharakter der Fragestellung. Nebeneffekt der hanebüchenen Debatte war allerdings ein kurzzeitig 30%-iges Umsatzplus der betroffenen Hundenahrung. Die Alternative lautete immer radikaler: völlige Freigabe der Werbemethoden und damit Legalisierung des SPD-kaufcom-deals oder Verbot jedweder tendenziöser öffentlicher Äußerung. Da Letzteres an den verschiedensten Beispielen immer wieder als undurchführbar dargestellt wurde, verschob sich das Pendel zunehmend in Richtung völliger Werbefreiheit.

Dass die Debatte dann eine überraschende Wendung nahm, daran hatte Kai einen nicht unerheblichen Anteil. Diesen allerdings bestreitet er im Gegensatz zu dem am Zustandekommen der kaufcom-SPD-Kampagne ausdrücklich nicht, obwohl Kai eigentlich nur als Fadenzieher im Hintergrund agierte. Handelnde Person war Frau Ernst, deren Wohnungstür der der Kai'schen Wohnung gegenüber lag. Es war ein Nachbarschaftsverhältnis auf Gegenseitigkeit. Frau Ernst hatte per Zweitschlüssel Zugang zu Kais Wohnung und hielt ihm bei allen Klempner-, Zählerstands- und anderen Terminen den Kalender frei und Kai revanchierte sich, indem er Frau Ernst abends bei der juristisch wasserdichten Kündigung aller übereilt abgeschossenen Telefonverträge, Zeitschriftenabos oder Ferienhausanzahlungen half.

Der Einstieg von Frau Ernst in die Ereignisse um die kaufcom-Krise, wie sie nur noch genannt wurde, kam für Kai sehr überraschend. Bei einem zufälligen abendlichen Zusammentreffen im Treppenhaus, wobei Frau Ernst dem Zufall durch langjährige Vertrautheit mit den Geräuschen im Hausflur durchaus eine gewünschte Richtung zu geben verstand, traf Kai mitten im Gespräch über Arbeit, Politik und lokale Ereignisse die Frage, ob "der Dreck denn nun weg komme". "Welcher Dreck?", fragte Kai und startete damit einen mit großer innerer Bewegtheit vorgebrachten Vortrag über die großformatige Werbetafel auf der dem Haus gegenüber liegenden Straßenseite, die Frau Ernst zugegebener Maßen 80 Prozent des Blicks auf den dahinter beginnenden Park versperrte, will man die planlose Begrünung einiger zusammenhängender Bombenlücken in der Häuserfront denn als Park bezeichnen. Zusammen mit einer sich anschließenden Brachfläche war allerdings tatsächlich eine kleine Grünzone im Kiez entstanden. In Frau Ernst entlud sich offenbar ein über Jahre angestauter und dabei bis zur Sättigung gereifter Ärger. Im Augenblick schaute aus der Plakatwand übrigens ein verzückt in einen Happen Junkfood beißender Teenager, der per Sprechblase den viel sagenden Kommentar "Hmmmm" von sich gibt.

"Ich esse diesen Dreck nicht! Niemals, lieber verhungern!", fasste Frau Ernst zusammen. Aber das sei nicht das Schlimmste. In aller Frühe, mit den ersten Sonnenstrahlen oder der in Vorfreude auf den neuen Tag aufgezogenen Gardine schaut ihr diese impertinente Person ins Fenster. Kaum ein Tag, an dem sie nicht zu Tode erschreckt, weil ihr der zu erwartende Anblick über Nacht wieder entfallen war. Sie hätte die Wohnung überhaupt hauptsächlich wegen des Grüns vor dem Fenster bezogen und außerdem verbänden sich mit den Parkwegen viele Erinnerungen, von denen sie jetzt geradezu abgeschnitten sei. Auch die frische Luft, die ihr ihr Arzt doch dringend empfohlen habe, so glaubte Frau Ernst zu bemerken, erreiche nun nur noch sehr vermindert ihr geöffnetes Fenster. An dieser Stelle verzichtete Kai, der bisher interessiert und mitfühlend genickt hatte, erstmals während der Unterhaltung auf die zustimmende Geste. – Problemlos würde ihr Arzt das bestätigen, so Frau Ernst. Auch könne sie ein zusätzliches Gutachten eines Psychologen beibringen, welches darstellt, wie die Situation an ihrem Allgemeinbefinden nage.

Kai, überlegend wie die Unterhaltung zu einem für Frau Ernst befriedigenden Ende geführt werden könne, sagte dann den etwas unüberlegten Satz: "Na dann verklagen Sie die doch!" "Genau", erwiderte Frau Ernst, "das machen wir, Jungchen". Der Satz war gesagt, und es war nicht Kais Art, ohne ganz gewichtige Gründe einen geäußerten Vorschlag zurückzuziehen. Kai empfahl also ein Rechtsanwaltsbüro, das ihm aus beruflicher Tätigkeit bekannt war, und welches Spaß und auch erfolgreiche Erfahrung in der Verfolgung von Spitzfindigkeiten hatte. Und – das nur nebenbei – er unterstützte Frau Ernst diskret und vollständig bei den Kosten, wobei sich diese sehr in Grenzen hielten, da das Büro ein sicheres Gespür dafür hatte, welcher Auftrag nicht ohne Folgen bleiben würde. Unter normalen Umständen hätte ein Anliegen wie das von Frau Ernst keinen Rechtsanwalt bewegt, auch nur eine Fachzeitschrift aus dem Regal zu nehmen. Aber die Zeit war nicht normal. Die Klage tangierte ein Problem bei dem die Öffentlichkeit Stecknadeln fallen hörte: die kaufcom-Affäre. Dass die Rechtsanwälte das so sahen, daran allerdings hatte nun Kai den vielleicht größten Anteil, da er in einem Telefongespräch vertraulich mitteilte, dass politische Kreise der SPD, aber auch anderer Parteien dem Ausgang des Rechtsstreits Ernst gegen ein Fastfood-Unternehmen größte Aufmerksamkeit entgegen brächten, da sie darin einen Musterprozess für die Verfolgung eigener Interessen sähen.

An dieser Stelle kommt kurzzeitig erneut Carmen ins Spiel. Nach einem Telefonat mit Kai, bei dem die nahe liegende Frage, wie es zum kaufcom-SPD-deal gekommen war, zu beider Überraschung nicht angesprochen wurde, erzählte Kai von Frau Ernst und ihrem juristisch verfolgten Ärger und auch Carmen gefiel die Idee, an der Kai zunehmend Spaß fand. Sie rief am folgenden Tag nun ebenfalls sehr konspirativ bei den betrauten Rechtsanwälten an, um von dem großen Interesse zu sprechen, das „kaufcom“ der Klage einer gewissen Frau Ernst entgegen bringe, da das Unternehmen aus bekannten Gründen über die Verpflichtung von Spezialisten auf dem entsprechenden Fachgebiet nachdenke.

Genau genommen unterhöhlten Carmen und Kai gerade den Boden, auf dem ihrer beider Existenzen standen. Sie hatten aber wiederum das richtige Gefühl, dass die Gefahr, als Märtyrer einer folgenreichen Bewegung gekreuzigt zu werden klein ist, gegen die Chance, als Auslöser derselben Karriere zu machen.

Bis heute umstritten sind der Grund aus dem und der Zeitpunkt, zu welchem die Stimmung kippte. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt war vielleicht die Einschätzung der Juristen, dass die Deregulierung, kurz "Werbefreiheit" genannt, ein einmaliger Akt sei, die strenge Regulierung aber zu einer Flut von Folgefragen, Prozessen und einem immer währenden juristischen Regelungsbedarf führen würde. Dies allerdings sollte zu einer der großen Fehleinschätzungen der Affäre werden. Die Klage von Frau Ernst jedenfalls hatte mit dem Stimmungswandel bereits gewonnen, denn sie wurde nun ernsthaft verfolgt.

Nach breiter und hitziger Diskussion, gefolgt von einem Kraftakt juristischer Basisarbeit und beginnender politischer Umsetzung entwickelte sich ein völlig neues Konzept öffentlicher Kommunikation, das heute als „Mediatrie“ bekannt ist. Es beruht auf zwei Grundsätzen:
1. dem Nachfrageprinzip und
2. dem Neutralitätsprinzip, auch Demagogieverbot genannt.

Der erste Punkt war ein voller Erfolg für Frau Ernst. Besagte er doch, dass niemanden eine öffentliche Nachricht, – zum Beispiel eine "werbende Mitteilung" – ungewollt treffen dürfe. Eine Zeitung kauft man, oder schlägt sie auf, ein Radio stellt man an. Die hmmm-Figur aber tritt ungewollt ins Blickfeld von Frau Ernst. Das ist nach den inzwischen gesetzlich verankerten Grundsätzen der Mediatrie verboten. Kritiker sahen unüberwindbare Hürden. So müsste der Zeitungsverkäufer ja beispielsweise die ersten Seiten seiner Zeitungen in der Auslage schwärzen, so dass nur die Titel übrig blieben. Die Speisekarte einer Gaststätte würde den Vegetarier nötigen, auch die Fleischgerichte offeriert zu bekommen, und das völlig ungewollt. Der Wegweiser zur A9 nach München ist natürlich ungewollt, wenn man nach Frankfurt wolle. Tatsächlich wäre die juristische Umsetzung des Nachfrageprinzips wohl nicht möglich gewesen. Die Umsetzung erfolgte dann auch erstaunlicherweise nicht juristisch, sondern völlig problemlos auf einem ganz unbürokratischen Weg.

Doch zunächst zum zweiten Prinzip, das auf noch wesentlich schärfere Ablehnung stieß: Jede Aussage sei fortan neutral, das heißt ausgewogen zu formulieren. Jeder Verstoß erfüllt den Straftatbestand der Demagogie und diese ist eine Verletzung des Menschenrechts auf Information. Hörte sich das zunächst noch recht akzeptabel an, wurde schnell klar, dass dieser Grundsatz jegliche Werbung im bisherigen Sinne ebenso beendet, wie traditionellen Wahlkampf. Frau Ernst hatte natürlich wieder gewonnen. "Hmmm" war blanke Demagogie.

Gegen dieses Prinzip entwickelte sich breiter Widerstand. Medienwissenschaftler ergingen sich in Vorträgen, dass es eine neutrale Aussage prinzipiell nicht gäbe, schon in der Auswahl der Nachricht stecke die Wertung. Wertfrei sei nur eine inhaltslose Aussage usw. Das verstehe sie nicht, sagte Frau Ernst in einer Talkshow (Kai saß im Publikum). Sie habe zu Hause ein Lexikon. Und das komme ihr gegenüber dem SPD-Wahlkampf und den Angeboten von „kaufcom“ doch sehr neutral vor. Also müsse es doch einen Versuch wert sein, neutral zu formulieren, wenn die Autoren von ihrem Lexikon diese Technik ja auch erlernt hätten.

Ein ernst zu nehmender und weniger leicht zu entkräftender Einwand kam von Seiten der Künstler: Wer will wohl zum Beispiel in ein Kabarett gehen, das ausgewogen formulierte Lexikon-Einträge darbietet. Die Bedenken aus Richtung der Kunst zerstreuten sich allerdings recht unkompliziert, da die Kunst bei genauem Hinsehen den Mediatriekodex in fast allen Fällen problemlos erfüllte. Um beim Kabarett-Beispiel zu bleiben war das Nachfragegebot ohnehin erfüllt, da die Besucher an der Theaterkasse Ihren Wunsch ausdrücklich geäußert und per Ticket bestätigt bekommen hatten. Und da außerdem bei Strafe des Erlöschens des Publikumsinteresses das Kabarett seine Darbietung nicht unter demagogisch falscher Flagge als Tragödie verkaufen wird, also per Firmennamen zutreffend erklärt, was den nachfragenden Besucher erwartet, ist der Demagogievorwurf durch Überschrift geheilt. Die wenigen Fälle, in denen die Kunst in werbender Weise auf sich aufmerksam zu machen versuchte, hatten sich mit Einführung der Mediatrie überflüssig gemacht, da sich Kunst nicht mehr in marktschreierischem Umfeld bewegen musste. Die Kunst hatte mit der neuen Situation überhaupt kein Problem.

Der Rest ist schnell erzählt. Frau Ernst hatte mit ihrer etwas hausbacken Lexikon-Bemerkung genau den Weg vorausgeahnt, den die Entwicklung nahm. Allerdings war in den letzten Jahren neben den Lexika, wie Frau Ernst sie kannte, ein völlig neues umfassendes Nachschlagewerk entstanden, welches nicht nur kostenlos war, sondern außerdem ausschließlich auf bürgerschaftlichem Engagement beruhte. Dieses Internet-Lexikon heißt „wikipedia“ und wächst weltweit mit rasanter Geschwindigkeit. Die Idee, im Internet ein vernünftiges Lexikon zu schaffen, in das jeder hineinschreiben kann, was er will, hört sich deutlich utopischer an, als der Mediatrie-Kodex. Dass „wikipedia“ im Jahre 2006, nach gerade einmal vier Jahren seiner Existenz, bereits Brockhaus-Qualität erreicht hatte, dass hätte niemand vermutet, und doch war es so. Da war der Gedanke, das System für die Mediatrie zu nutzen fast naheliegend. Ein neues Forum mit dem Namen "wikitext" wurde geschaffen und diente als "Mediatrietest" für strittige Statements. Das Aufspüren demagogischer Texte war fast zum Volkssport geworden und das Durchforsten des „wikitext“ erlangte zunehmend Kultstatus, wie einst "moorhuhn" oder "pagman" und leistete seinen Teil zur Akzeptanz des so genannten wiki-Siegels. Als Kriterium bildete sich die Regel heraus, dass das Siegel – ein kleines „w“ im Kreis – zuerkannt wurde, wenn ein Text nach 5 Tagen im Netz ein Saldo von 3 überzähligen Ja-Stimmen erreicht hatte. Dann galt eine These, z. B. die vom „besonders sparsamen Kleinwagen“, als Demagogie-geprüft und durfte das „w“ führen. Daran war eigentlich überhaupt nichts Neues. Das Verfahren wurde eins zu eins von dem „lesenswert-Siegel“ der Online-Enzyklopädie übernommen.

Ein Gegenargument soll nicht unerwähnt bleiben: Die Mediatrie werde Tausende von Arbeitsplätzen in der Werbeindustrie kosten, so ein Aufschrei der Kritik. Tatsächlich gab es in den betroffenen Branchen einige Turbulenzen, die sich aber darauf beschränkten, dass Abteilungen, die bisher an Slogans arbeiteten, ihre Aufgabe verloren, zu Gunsten der Arbeit an den Inhalten werbender Firmenpublikationen. Der Bedarf des Käufers umworben zu werden hatte sich ja nicht reduziert. Nur wollte der Käufer nicht mehr den "Duft von Freiheit", sondern eine wikitext-zertifizierte Aussage zu dem Produkt, mit dem er liebäugelte. Nebenbei hatte sich das Arbeitsplatz-Argument selbst diskreditiert, da es nie eine Qualität erreichte, die zum w-Siegel geführt hätte. Das Prestige des Siegels war aber bereits so hoch, dass den Urhebern zu ihrer Rufrettung nur übrig blieb, sich unauffällig aus der Urheberschaft zurückzuziehen.

Einen Wahlkampf im bisherigen Sinne gab es natürlich nicht mehr. Die Parteien bemühten sich, ihre Programme und Vorhaben unter genauer Nennung der Risiken und unter Darstellung entgegengesetzter Auffassungen darzulegen. Dabei waren sie sehr bemüht, jede Aussage durch das kleine „w“ im Kreis zu legitimieren. Eine Veröffentlichung ohne dieses Siegel war sehr schnell undenkbar geworden, da sie auf keinerlei Akzeptanz mehr stieß. Wahlkampfzeit bemerkte man eigentlich nur noch dadurch, dass die Nachfragezahlen auf die Drucksachen und Internetseiten der Kandidaten stiegen. Plakate an Laternen waren undenkbar, da sie gegen beide Prinzipien verstießen und das tat den Straßen ebenso gut, wie der Demokratie. Parteienabende wurden wieder besucht und Politik begann ein besseres Image zu bekommen. Am längsten brauchte die neue Zeit, um im Bundes- und in den Landesparlamenten Fuß zu fassen, und fast wäre es doch noch zur Einführung einer Kommission gekommen. Viel schneller wirkten aber gern gelesene Kolumnen mit Titeln wie "Geblöke der Woche", „Stimme im Abseits“ oder „Gedöns“, die viele Zeitungen einführten und die erfahrene Parlamentarier schnell dastehen ließen, wie Museumsstücke aus einer längst vergangenen Zeit. Einigen von ihnen, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, gelang die Umstellung tatsächlich nicht und sie verschwanden von der politischen Bühne. Deren Zahl aber war überschaubar und ihr Verlust war zu verschmerzen.

Es war ganz still geworden im Land. Es gab keine dröhnenden Werbespots mehr und keine schreienden Plakatwände. Plötzlich konnte man die ganz leisen Stimmen hören und man merkte, dass gerade sie Interessantes zu sagen hatten.